Forschung
Die Forschungslinie "Wissensproduktion und Kulturtransfer: Lateinamerika im transregionalen Kontext"
Das Ibero-Amerikanische Institut verfügt über eine in Europa konkurrenzlose Spezialbibliothek und zahlreiche Sondersammlungen. Es handelt sich dabei um spartenübergreifend miteinander vernetzte analoge und digitale Materialien. Sie umfassen die Nachlässe, die Fotothek, die Kartensammlung, die Phonothek, die Filmsammlung, Archive von Institutionen, die Grafiksammlung, die Plakatsammlung und die Zeitungsauschnittsammlung. Die einmaligen und vielfältigen Materialien sind Ausgangspunkt für Forschungs-, Publikations- und Ausstellungsprojekte.
Dutzende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Lateinamerika und der Karibik suchen das IAI Jahr für Jahr auf, um die Bestände des Instituts für ihre Forschung zu nutzen. Das IAI ist aber von Anfang an mehr als ein Wissensarchiv gewesen. Aufgrund seiner eigenen wissenschaftlichen und kulturellen Aktivitäten ist das Institut auch ein Ort der Wissensproduktion sowie des kulturellen und wissenschaftlichen Austausches mit und über Lateinamerika, ein Labor der Disziplinen übergreifenden Lateinamerikaforschung. Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen aus Lateinamerika treffen im IAI auf ein Team von Wissenschaftler/innen, das sich seinerseits aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven mit der Region beschäftigt. Die vor diesem Hintergrund Tag für Tag stattfindenden interkulturellen und interdisziplinären Dialogprozesse haben uns dazu veranlasst, unsere Forschungsaktivitäten auf die Forschungslinie "Wissensproduktion und Kulturtransfer: Lateinamerika im transregionalen Kontext" zu konzentrieren.
Wir interessieren uns zum einen für die Wissensproduktion im Raum des heutigen Lateinamerika und der Karibik, vor allem für die Auswirkungen unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen auf die Konstituierung und Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen und universitären Ausbildungsgängen in der Region sowie auf die Produktion von theoretischem und empirischem Wissen in den lateinamerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Konzepte wie Autonomie und Abhängigkeit, Abgrenzung, Aneignung, Übersetzung und Adaption, Zentrum und Peripherie oder Kolonialität des Wissens spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Im Rahmen der Forschungslinie geht es um die kritische Auseinandersetzung mit solchen Konzepten, aber auch um historische und empirische Forschung zur Rolle nationaler und internationaler Institutionen und Akteure für die Wissensproduktion in der Region.
Zum anderen geht es uns um eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissensproduktion über Lateinamerika. Dazu gehört beispielsweise die Frage, inwiefern theoretische Erklärungsmodelle, die vor einem europäischen oder US-amerikanischen Erfahrungshintergrund entstanden sind, für ein Verständnis lateinamerikanischer Realitäten geeignet sind. Es geht aber auch um die Rolle Lateinamerikas in Prozessen der internationalen Wissenszirkulation, nicht zuletzt um die Frage, warum die Rezeption von in Lateinamerika produziertem Wissen außerhalb der Region bis zum heutigen Tag auf vielfältige Barrieren stößt.
Im Hinblick auf das Thema Kulturtransfer geht es uns um die Analyse wechselseitiger Vermittlungen sowie Rezeptions-, Austausch- und Verarbeitungsprozesse. Transferprozesse finden sowohl durch direkten Kontakt zwischen Personen und Institutionen als auch vermittelt durch Objekte (wie Artefakte, Kunstwerke, Bücher, sonstige Schriftquellen, Periodika, Bild- und Tonträger) statt. Je größer der räumliche oder zeitliche Abstand zu Schriftkultur ist, desto mehr erhöht sich die Bedeutung und Wichtigkeit der Objekte für das Verständnis von Transferprozessen. Anders als der traditionelle Gebrauch des Begriffes Transfer dies suggerieren könnte handelt es sich dabei nicht um unilaterale, sondern um komplexe und wechselseitig miteinander verschränkte Prozesse, die sich über längere Zeiträumen strecken können.
Ziel der Forschungslinie ist es, unterschiedliche disziplinäre Perspektiven aufeinander zu beziehen und miteinander in Dialog zu bringen, um so Gemeinsamkeiten und Unterschiede (beispielswiese im Hinblick auf die jeweiligen Zeithorizonte oder auf das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis) herauszuarbeiten. Die unterschiedlichen analytischen Dimensionen (Diskurse, Akteure, Institutionen, Objekte) werden dabei so weit wie möglich aufeinander bezogen. Nicht zuletzt geht es uns im Sinne einer Selbstreflexion auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Forschung über Lateinamerika.